Aufschlussreiche Einblicke in die Arbeit der Drogenberatung Bielefeld beim IHC Termin bei Seidensticker (v. l.): IHC Präsidiumsmitglied und Moderator Dr. Harald Schlüter, Nicole Seidensticker-Delius und Seidensticker-Vorstandsmitglied Dr. Silvia Bentzinger, die im Auftrag von Gastgeber Seidensticker begrüßte, Referent Michael Wiese.
250 Millionen Menschen weltweit konsumieren illegale Drogen. So steht es im aktuellen Drogenbericht (2018) der Vereinten Nationen. Das europäische Marktvolumen für Kokain beträgt rund 5,7 Milliarden Euro, das für Heroin 6,8 Milliarden Euro – und für Cannabis liegt es bei 9,3 Milliarden Euro. Schockierende Zahlen. Doch am gefährlichsten bleiben die legalen Drogen Alkohol und Tabak. Täglich sterben in Deutschland 200 Menschen an den Folgen von Alkoholkonsum, 300 Menschen an den Folgen von Tabakmissbrauch. Dennoch ist es ist Deutschland weiterhin erlaubt, für Alkohol und Tabak zu werben. Eine Tatsache, die für Michael Wiese von der Bielefelder Drogenberatung nicht nachzuvollziehen ist. Vor IHC Mitgliedern und Gästen bot der Geschäftsführer des Vereins einen hochspannenden Vortrag über die derzeitige Situation in Bielefeld und Deutschland.
Mit seinem „multi-professionellen“, hochengagiertem Team stellt sich Michael Wiese täglich der Herausforderung. Denn längst sind Kiffen und Koksen in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Dabei gilt es zwischen stofflichen und nichtstofflichen Süchten zu unterscheiden. Arbeits-, Fress-, Spiel-, Online- oder Mediensucht nehmen dramatisch zu – und auch für diese Gruppe von Süchtigen ist die Bielefelder Drogenberatung eine wichtige Anlaufstelle.
Menschen nehmen aus unterschiedlichen Gründen Drogen zu sich. „Wir alle sind Drogenkonsumenten“, stellt Michael Wiese fest. Es wird zwischen drei Arten des Konsums unterschieden. Erstens, um sich etwas Gutes zu tun. Oder wie Platon schon formulierte: Drogenkonsum als Ausdruck des Strebens nach Glück. Zweitens den missbräuchlichen Konsum, um Stress oder Druck oder Angstzustände zu betäuben. Von diesem Stadium ist der Weg in die Abhängigkeit, der dritten Form, oftmals fließend.
Welche Drogen als legal und welche als illegal deklariert werden, ist eine rein politische Differenzierung und nicht, wie oft angenommen wird, eine gesundheitliche. Vor 240 Jahren war zum Beispiel Kaffee verboten, weil die Preußen überwiegend Biersuppe und Malzkaffee konsumierten und dieser Wirtschaftszweig nicht leiden sollte. Bis 1692 stand Rauchen in Lüneburg unter Todesstrafe. Und in den 1970er Jahren war es noch völlig normal, Kindern bei Husten Codein-Tropfen zu verabreichen.
Eindrücklich schilderte Michael Wiese das Leben „auf der Szene“ in Bielefeld. Derzeit sind es rund 2.500 Personen, die der illegalen Straßenszene angehören. 80 Prozent von ihnen sind Männer, 30 Prozent haben einen Migrationshintergrund, 60 Prozent leben von Hartz IV, 50 Prozent haben Kinder. Drei- bis viermal pro Tag muss ein Heroinsüchtiger konsumieren, um keine Entzugserscheinungen zu haben, entsprechend hoch ist der Finanzierungsbedarf.
Seit etwa 2004 konzentriert sich die Szene der Obdachlosen, Alkohol- und Drogenabhängigen mit all ihren negativen Begleiterscheinungen an der so genannten „Tüte“, dem Stadtbahnabgang zwischen Hauptbahnhof und Stadthalle. „Jede Stadt hat ihre Tüte“, brachte Michael Wiese das Problem auf den Punkt und verwies auf Erfahrungen in anderen Städten. „Wir müssen damit leben. Aber nicht so. Es gibt noch reichlich Luft nach oben, um die aktuelle Situation zu verbessern.“
Keine Lösung sei das „Junkie-Jogging“, also das Vertreiben der Abhängigen, denn das verlagere nur das Problem. Gegen den Müll hilft das tägliche Reinigen, betreffend der Fäkalien plädiert Michael Wiese seit langem für Toilettenhäuschen. Vor allem aber hätte er sich in der Nähe einen Anlaufpunkt für Drogenabhängige gewünscht. Doch niemand will eine Drogenberatungsstelle in seiner Nachbarschaft.
Als Pragmatiker weiß Michael Wiese jedoch, dass es keine Verbesserung der örtlichen Situation geben wird, solange sich die Politik des unbeliebten Themas nicht ernsthaft annimmt. Das gilt nicht nur lokal, sondern bundesweit. „Wir brauchen eine Risikominimierung. Mehr Regulierung, nicht Verbote. Das betrifft die Verfügbarkeit, die Preispolitik und das Werbeverbot. Und wir müssen die Armut in Deutschland bekämpfen. Sie ist heute eine der Hauptursachen für Drogenmissbrauch.“
Seine letzte Bitte an alle Anwesenden: „Begegnen Sie Drogenabhängigen mit mehr Demut. Der Grat zwischen Ihnen und der anderen Seite ist ein sehr schmaler.“
www.drogenberatung-bielefeld.de
www.drogenberatung-bielefeld.de/de/tiersprechstunde
Der IHC dankt der Firma Seidensticker für ihre Gastfreundschaft.
Text: Julia F. Negri / Fotos: Susanne Freitag