Bielefeld. Ehrgeizig möchte der Industrie- und Handelsclub Ostwestfalen-Lippe „von den Besten lernen“. So steht es jedenfalls auf einem Aufsteller hinter dem Redepult. Siegen lernen, könnte es an diesem Tag auch heißen: Zu Gast ist Hendrik Wüst, Nordrhein-Westfalens alter und wohl auch neuer Ministerpräsident.
Wenige Stunden vor seinem Auftritt in Bielefeld haben die Landesgeschäftsstellen von CDU und Grünen den „Fahrplan für die Koalitionsverhandlungen“ vorgestellt. Ende Juni soll demnach die erste schwarz-grüne NRW-Koalition stehen. Zu Beginn der Sommerferien könnte Wüst als Ministerpräsident wiedergewählt werden.
Man sei sich längst nicht in allen Fragen einig, sagt Wüst pflichtschuldig. „Im Detail gibt es noch eine ganze Menge zu verhandeln.“
Empfängt man in Ostwestfalen einen hochrangigen Politiker aus Düsseldorf, wird gerne die Entfernung zur Landeshauptstadt betont. Obwohl ganz im Nordosten des Landes angesiedelt, sei man hier „auch wichtig“, sagt Club-Präsident Eduard R. Dörrenberg so, als sei Wüst zum ersten Mal in der Region.
Als Westfale weiß Wüst freilich um die Bedeutung des Landesteils. Im Münsterland habe er in der Vergangenheit auch die politisch ausgrenzende Erfahrung gemacht, „dass nördlich von Dortmund Schluss war“. Das sei in der schwarz-gelben Regierungszeit nicht so gewesen und das soll auch in einer möglichen schwarz-grünen Regierungszeit nicht so sein. „Wenn es ein Kabinett Wüst II gibt, garantiere ich, die Ministerinnen und Minister werden wieder fleißig in Westfalen unterwegs sein.“
Angereist ist Wüst nun aber nicht aus Düsseldorf, sondern von einer Bundesratssitzung in Berlin. Man hat mal wieder in Präsenz getagt und könne „einen Haken hinter Corona machen“, sagt Wüst, wenn die Zahlen nicht wieder steiler gehen würden: In NRW ist die Sieben-Tage-Inzidenz der Infizierten laut Robert Koch-Institut auf 377 gestiegen. „Wir waren schon mal bei 202 – also: Corona mit all seinen Belastungen ist nicht vorbei.“
Wüst warnt vor einem dritten Corona-Winter. Die Bundesregierung solle nicht planlos in die Sommerpause gehen, um sich anschließend in den gleichen Debatten zu verlieren, wie man sie aus der Vergangenheit kenne, sagt der CDU-Politiker. Die Freiheit einer Gesellschaft bemesse sich nach seiner Überzeugung „nicht daran, ob man während einer Pandemie im Nahverkehr eine Maske trägt“. Er sei gerade drei Stunden Zug gefahren. „Das ist nicht nett, aber bringt einen auch nicht um.“
Einiges von dem, was Wüst in Bielefeld vorträgt, hat man in diesen Tagen schon gelesen. Manchmal hat man das Gefühl, vor ihm liegt der Sprechzettel seines Vorgänger Armin Laschet (CDU). NRW müsse „trotz Klimaschutz Industrieland bleiben“, mahnt Wüst. Nur wenn Wohlstand und soziale Sicherheit gesichert seien, könne man beim Klimaschutz vorangehen. Zum geplanten Kohleausstieg 2030 „stehe ich nach wie vor“.
Vor allem angesichts des russischen Angriffskrieges in der Ukraine geht es bei der Energie nur über Kompromisse. „Ich sehe auf der einen Seite Fridays for Future“, erzählt Wüst, „auf der anderen Seite sehe ich Auszubildende bei Thyssen-Krupp.“ Er spüre die Verantwortung, die „Polarisierung“ in jener jungen Generation zu überwinden. „Wir haben die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, ihnen ein Projekt anzubieten“, sagt Wüst, ganz Landesvater: eines zur „Versöhnung von Klimaschutz und Industrie“.
In einer möglichen Regierungskoalition mit pragmatischen Grünen könne dies gelingen. Auch wenn die „Schwierigkeiten manchmal im Detail liegen“.