Bielefeld. Der demografische Wandel nimmt die deutsche Wirtschaft zunehmend in die Zange. Die Problemlage ist seit Jahrzehnten bekannt: Auf der einen Seite verabschieden sich immer mehr ältere Arbeitnehmer in den Ruhestand – das nun erreichte Renteneintrittsalter der Baby-Boomer-Generation (geboren in den 50er und 60er Jahren) wird die Entwicklung in den nächsten Jahren verschärfen.
Auf der anderen Seite wachsen immer weniger junge Leute nach, die Stichworte sind Pillenknick und Geburtenrückgang. Ein wachsender Fachkräftemangel und eine Zerreißprobe für die beitragsfinanzierten Sozialversicherungssysteme sind die beiden Seiten der Medaille.
Sozialsysteme gefährdet
Die Gütersloher Bertelsmann-Stiftung hat in einer neuen Studie noch einmal nachgerechnet, was auf die Sozialversicherungen zukommt: Ohne breite Reformen würden die Beiträge zu den Sozialversicherungen von heute 39,8 Prozent der beitragspflichtigen Einkommen auf 47,9 Prozent im Jahr 2035 steigen. Das wäre eine erhebliche Mehrbelastung für die Arbeitnehmer, aber auch für die Unternehmen, die die Beiträge etwa zur Hälfte mitbezahlen.
Kommen derzeit etwa 35 Ruheständler und Ruheständlerinnen auf 100 Erwerbstätige, werden es dann bereits 48 sein, errechnete der Bochumer Sozialpolitik-Professor Martin Werding. Steigende Abgaben würden Bruttolöhne und Arbeitskosten erhöhen, trotz des aktuellen Fachkräftemangels könnte steigende Arbeitslosigkeit die Folge sein.
Rentenalter erhöhen?
Um der Entwicklung gegenzusteuern, schlagen die Autoren der Studie vor, mehr Zuzug von ausländischen Fachkräften und eine höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen zu ermöglichen. Ein weiterer Hebel sei die Anhebung des Renteneintrittsalters. Zudem ist auch ein steigender Anteil der Steuerfinanzierung möglich.
Risiko Fachkräftemangel
62 Prozent der Unternehmen sehen im Fachkräftemangel das größte Risiko für die Zukunft ihres Unternehmens. Das habe die jüngste Konjunkturumfrage ergeben, sagte Petra Pigerl-Radtke, die Hauptgeschäftsführerin der Industrie- und Handelskammer Ostwestfalen, vor den Mitgliedern des Industrie- und Handelsclubs (IHC) OWL.
Sie zeichnete ein alarmierendes Bild: Bis zum Jahr 2030 könnten allein in Ostwestfalen schon 81.000 Fachkräfte fehlen, bis 2035 dann sogar 126.000. Einen Mangel gebe es vor allem an Facharbeitern und Kräften für die mittlere Qualifikationsebene. Die Folge: Vier von zehn Unternehmen landesweit fürchteten Umsatzeinbußen, weil sie Aufträge aufgrund des Fachkräftemangels ablehnen müssten. Auch die Digitalisierung werde das Problem nicht grundsätzlich lösen, warnte Pigerl-Radtke.
Potenziale nutzen
Um dennoch Nachwuchskräfte zu bekommen, sei es durchaus möglich, auch Jugendliche ohne Schulabschluss betrieblich auszubilden. In OWL gehe es dabei um fast fünf Prozent aller Schulabgänger. Der Schulabschluss sei „nicht das alleinige Kriterium“ für die Eignung zu einer Berufsausbildung, auch wenn es in der Vergangenheit für sie schwer gewesen sei, eine Lehrstelle zu bekommen.
Ähnliches gelte für junge Erwachsene, die bisher ohne berufliche Ausbildung seien – das betreffe allein in OWL viele tausend Menschen. Auch sie könnten oftmals qualifiziert werden, eventuell durch Teilqualifikationen „in kleinen Schritten“, so Pigerl-Radtke.
„War for Talents“
Die Hauptgeschäftsführerin betonte: „Wir haben einen Arbeitnehmermarkt.“ Das impliziert, dass viele Firmen sich im verschärften Wettbewerb um talentierte Nachwuchskräfte (englisch „war for talents“) befinden – und die jungen Leute sich ihre Ausbildungsstelle oft aussuchen können. Auszubildende wollten sich für ein Unternehmen begeistern können und fragten nach dessen Sinnhaftigkeit, so Pigerl-Radtke. Um die Hürde für Bewerber niedrig zu halten, könne man eine Bewerbung per App ermöglichen.
Zugaben zum Ausbildungsvertrag – etwa E-Roller oder Smartphones – seien durchaus attraktiv, ebenso wie die Möglichkeit zur Arbeit im Homeoffice. Auch die Art der Ansprache spiele eine Rolle: Nicht so bierernst, und auf der Website gern garniert mit „Recruitainment“ – Wissensspiele etwa.
Der Königsweg für die Fachkräftegewinnung (und für die Schulabgänger ein wertiger Start ins Berufsleben) sei die Ausbildung im eigenen Unternehmen. Aber auch um vorhandene Mitarbeiter – selbst jenseits der 50 – müsse man sich wieder mehr kümmern und ihnen Entwicklungsmöglichkeiten anbieten.